G. Duc u.a. (Hrsg.): Histoire des transports et de la mobilité

Cover
Titel
Histoire des transports et de la mobilité. Entre concurrence modale et coordination (de 1918 à nos jours)


Herausgeber
Duc, Gérard; Olivier, Perroux; Hans-Ulrich, Schiedt; François, Walter
Reihe
Collection Histoire des transports, du tourisme et du voyage
Erschienen
Neuchâtel 2014: Éditions Alphil
Anzahl Seiten
462 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Benjamin Spielmann

Dieser Sammelband geht auf ein internationales Symposium vom November 2011 in Genf über die Mobilität von Gütern und Personen zurück. 23 Fachbeiträge auf Deutsch, Französisch und Englisch beschäftigen sich in sechs Themenblöcken mit Konkurrenz und Koordination von Verkehr. Ein Schwerpunkt zahlreicher Artikel liegt dabei auf der Koordination des Schienen- und Strassentransports und seinen Konfliktherden, die in den meisten europäischen Ländern in der Zwischenkriegszeit zu entbrennen begannen und sich nach der Zäsur des Zweiten Weltkrieges fortsetzten. Der erste Artikel von Gijs Mom, der den Themenblöcken vorangestellt ist, weist auf die «clashing cultures of mobility» (S. 50) zwischen Strasse und Schiene hin, die es im Zeichen des cultural turn zu überwinden gelte. Noch immer sei die historische Forschung zu stark auf einzelne Verkehrsträger und zu wenig auf eine integrale Betrachtung derselben konzentriert, so Mom weiter. In seinem zweiten Aufsatz über die Auseinandersetzungen innerhalb der Güterverkehrsmobilität von 1920 bis 2000 (S. 177–196) exemplifiziert er sein Plädoyer für eine verstärkt kulturhistorische Betrachtungsweise an den Niederlanden, wo sich in der Güterverkehrskoordination Schwerindustrie und Eisenbahn einerseits, Einzelhandel und Strassentransport andererseits gegenüberstanden.

Martin Schiefelbusch eröffnet den ersten Themenblock über die Koordination internationaler Mobilität mit der Erörterung der transnationalen Harmonisierungsbestrebungen in Eisenbahnfragen in Europa Ende des 19. Jahrhunderts und Mitte des 20. Jahrhunderts. Dabei verdeutlicht er das Spannungsfeld zwischen der von der Politik favorisierten Eisenbahn mit den ins Feld geführten politischen und wirtschaftlichen Vorzügen (Integration des Kontinents, Skaleneffekte) einerseits und dem unaufhaltsamen Aufstieg des motorisierten Strassenverkehrs nach dem Zweiten Weltkrieg andererseits. Schiefelbusch konstatiert, dass sich die nationalen Bahngesellschaften mit ihren Partikularinteressen, Eigenheiten und dem Fokus auf das eigene Eisenbahnnetz den politischen Koordinationsbemühungen in weiten Teilen erfolgreich widersetzten, womit dem motorisierten Strassenverkehr nach dem Zweiten Weltkrieg der Weg geebnet war. Zu einem ähnlichen Resultat kommt Michèle Merger in ihrem Beitrag, der die technischen und strukturellen Eigenschaften der beiden Verkehrsträger und die Intermodalität akzentuiert. Der Strassengüterverkehr konnte – so die Autorin – aufgrund seiner dezentralen Organisationsstruktur Marktdynamiken und geänderte Kundenbedürfnissen besser meistern als die staatlich geführten Eisenbahnen und deshalb seinen Vorsprung gegenüber dem Schienengüterverkehr ausbauen und zementieren. Sébastien Gardons Artikel über die Bemühungen zur Verkehrskoordination auf Ebene des Völkerbundes und der Vereinten Nationen verliert sich mit vielen Abkürzungen, detaillierten Datumsangaben, ausschweifenden Originalzitationen und umfangreichen Tabellen stark in Einzelheiten.

Anette Schlimm untersucht im zweiten Themenblock über die Koordination nationaler Mobilität dieselbe für die Zwischenkriegszeit in England. Sie führt aus, dass die involvierten Experten und Entscheidungsträger verschiedene Vorstellungen über die Verkehrsplanung hatten, aber dank einer auf Ratio ausgerichteten Gesprächs- und Problemlösungskultur durchaus zu Einigungen kamen. Allerdings seien zentrale Interessengruppen ausgelassen worden und die Verhandlungsakteure fälschlicherweise von einem statischen Verkehrssystem in einem zentralisierten und stark industrialisierten Land ausgegangen. Insofern habe es sich lediglich um oberflächliche und langfristig wenig brauchbare Lösungen gehandelt, so Schlimm. Der Text ist sehr spannend und gut reflektiert; leider wird das Konzept des social engineering, das den Überlegungen als Leitlinie zugrunde liegen soll, unzureichend erörtert und verankert. Ueli Haefeli geht den «recht erstaunlichen Beobachtungen» (S. 198) nach, dass sich die Schweizer Stimmbevölkerung bei den bislang fünf eidgenössischen Abstimmungen zur Verkehrskoordination stets abweichend zur Empfehlung von Bundesrat und Parlament und bei den 27 Vorlagen zur allgemeinen Verkehrspolitik in den allermeisten Fällen im Sinne der Bundesversammlung geäussert hat. Mit Blick auf institutionelle Faktoren konkludiert er, dass mit zunehmender Verkehrskoordination in der föderal organisierten Schweiz ein Wachsen des Zentralstaats und individuelle Mobilitätseinschränkungen befürchtet worden seien. Dies würde die allgemeine Beobachtung des konservativen Abstimmungsverhaltens in der Schweiz bei komplexen Vorlagen bestätigen, wozu laut Haefeli Fragen zur Verkehrskoordination zu zählen seien.

Im dritten Themenblock über die Koordination urbaner Mobilität befassen sich Aurélien Delpirou und Arnaud Passalacqua mit dem unterirdischen Schienenverkehr in Rom. Sie arbeiten heraus, dass der verspätete und zurückhaltende U-Bahn-Bau in der Metropole nicht ausschliesslich – wie gemeinhin angenommen mit archäologischen Fundstätten im Untergrund zusammenhing, die die Errichtung eines weitverzweigten und ausgeklügelten U-Bahn-Netzes vereitelt hätten. Die Missbehagen auslösende Vorstellung, sich zum Vorwärtskommen unter die Erdoberfläche begeben zu müssen; die Annahme, Rom sei als von der Industrialisierung weitgehend übergangene Stadt für eine U-Bahn ungeeignet; eine ausgeprägte Individualmotorisierung; ein grundsätzliches Desinteresse seitens der politischen Entscheidungsträger; fehlendes technisches Know-how: Dies waren den Autoren zufolge eher die Gründe für das Streckennetz von lediglich 36 Kilometern und zwei Linien, die zudem erst 1955 beziehungsweise 1980 eröffnet wurden.

Der vierte Themenblock über die Koordination von Mobilität, Konflikten und Lobbys beginnt mit einem Aufsatz von Wulfhard Stahl, in dem er die gegensätzlichen Haltungen von Eduard Bertz und Hermann Ortloff zum Fahrrad nacheinander referiert. Dieser Text ohne erkennbare Struktur wirkt etwas zufällig und uninspiriert. Ganz anders der Beitrag von Peter Cox: Differenziert, sorgfältig und dennoch lebendig erörtert er den Konflikt zwischen Automobil und Fahrrad, der in der Zwischenkriegszeit in Grossbritannien gärte und durch die Einführung des Rücklichtobligatoriums für die im öffentlichen Diskurs unbeliebten Fahrräder und die Kreierung gesonderter Fahrradwege ausgelöst wurde. Mit dem Skandieren klassenkämpferischer Parolen und Verfassen plakativer Stellungnahmen habe sich, so Cox, die bis dahin unscheinbare Masse der Fahrradfahrer in Form des Cyclists’ Touring Club zum ernstzunehmenden (verkehrs-)politischen Akteur formieren können.

Im fünften Themenblock über die Koordination von Transportinfrastruktur und Landplanung nimmt sich Philipp Hertzog der Phase der Planung von Hochgeschwindigkeitszügen und dem Kampf um lokale Anbindung in den 1970er Jahren anhand der Fallbeispiele Dijon und Göttingen an. Der Aufsatz bleibt allerdings deskriptiv und steht aufgrund seiner unklaren Verortung und unscharfen Sprache etwas abseits. Sandro Fehr orientiert sich mit seinem Text über die Koordinierung der Luftfahrtinfrastruktur von 1935 bis 1956 in der Schweiz stark an seiner 2012 von der Universität Bern angenommenen Dissertationsschrift. Sein Beitrag ist durchaus lesenswert, bietet aber kaum von der Dissertation abweichende Erkenntnisse.

Inhalt des sechsten Themenblocks ist die Koordination von Mobilität und Tourismus. Xavier Bernier analysiert die Entwicklung der vertikalen Erschliessung von Alpenregionen und ihre Integration in die touristische Mobilität anhand dreier Raummodelle. Er konstatiert eine «urbanisation» (S. 394) immer höher gelegener Regionen und weist überzeugend auf die Notwendigkeit von mehr Studien zu touristischen Bergregionen in vertikal-räumlicher Perspektive hin. Gekonnt setzen Cédric Humair und Mathieu Narindal Mobilität und Tourismus für die Schweiz in der Zwischenkriegszeit gegenüber. Sie beleuchten Massnahmen und Akteure, die den schwächelnden Tourismus nach dem Ersten Weltkrieg wieder hätten auf die Beine bringen sollen. Zielkonflikte und Konkurrenzverhältnisse zwischen dem Transport-, Tourismus- und Hotelleriesektor hätten tragfähige und integrative Kooperationen trotz staatlicher Unterstützung verhindert. Erst der Markteintritt von Gottlieb Duttweilers genossenschaftlich orientiertem Hotelplan im Jahr 1935 habe den Markt mit Pauschaltarifen und preisgünstigen Angeboten grundlegend «bouleversé et dynamisé» (S. 425), so die Autoren. Einen gelungenen und originellen Schlusspunkt setzt Valérie Lathion mit ihrer Beleuchtung protestantischer Kreise, die sich aus religiösen, moralischen und philanthropischen Gründen gegen die zunehmende Mobilität während Sonn- und Feiertagen zur Wehr setzten. Der Diskurs habe mit dem Unmut über verbilligte Freizeitfahrten mit der Eisenbahn Ende des 19. Jahrhunderts begonnen und sei in den 1950er und 1960er Jahren mit der Massenmotorisierung und den automobilen Sonntagsausfahrten erneut aufgeflammt.

Der Sammelband punktet mit einem breiten Spektrum von Beiträgen und Autoren aus verschiedensten Fachrichtungen. Weiter ist zu würdigen, dass mit dem Blick über den Tellerrand der einzelnen Verkehrsträger hinaus die Demarkationslinien der klassischen Verkehrsgeschichte überwunden werden. Ein Syntheseartikel, der die fragmentierten Erkenntnisse in einem Gesamtrahmen vereinigt, wäre sehr wünschenswert gewesen, zumal die in der Einleitung aufgeworfene Forderung, historisches Wissen für die Lösung aktueller Verkehrsprobleme verwertbar zu machen, offen im Raum stehen bleibt. Dennoch ist das Werk grundlegend für die Untersuchung von Verkehrskoordination aus historischer Perspektive und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere Studien in der Verkehrs- und Mobilitätsgeschichte.

Zitierweise:
Benjamin Spielmann: Rezension zu: Gérard Duc, Olivier Perroux, Hans-Ulrich Schiedt, François Walter (éd.), Histoire des transports et de la mobilité. Entre concurrence modale et coordination (de 1918 à nos jours) / Transport and mobility history. Between modal competition and coordination (from 1918 to the present), Neuchâtel: Editions Alphil- Presses universitaires suisses, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 1, 2016, S. 193-196.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 1, 2016, S. 193-196.

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